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et cetera: Buch-Beitrag "Summ summ summ"
    
"Summ summ summ"
Beitrag in
"Geister, Goethe und Soldaten -
Geschichten & Gedichte um Schloss Bensberg"
Sammelband, hrsg. vom Schloss Bensberg e.V.
Informa-Verlag 2000
"Geister, Goethe und Soldaten"
  

Sie putzte sich. Aber für wen eigentlich?
Sibille saß in der unteren Fensterecke und sah missmutig über den Schlosshof.
Sie war gefangen, allein.

Nun ja. In gewisser Weise nicht ganz allein. Sie blickte zu dem Mann zu ihren Füßen. Gestern hatte sie ihn noch vor dem Schloss gesehen. Sehr lebendig. Da hatte es so gewirkt, als sage er anderen, was sie zu tun und zu lassen haben. Nachdem er im Portal verschwunden war, hatten die übrigen Männer, die kurz zuvor noch Butterbrote ausgewickelt hatten, geschäftig begonnen, eine Betonmischmaschine in Gang zu setzen.

Jetzt lag er da. Regungslos und still auf dem staubigen Boden, der mit Holzstücken und Überbleibseln diverser Bauarbeiten übersät war. Sibille beschloss, den Mensch näher zu betrachten. Sie stieß sich mit den Beinen fest von der Glasscheibe ab und flog zunächst eine Runde um seinen Kopf.

Nichts regte sich. Sie sog Reste eines Joop-Aftershaves ein, an dessen Namen sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Zugegebenerweise hatte sie es damals in der Parfümerie nicht lange ausgehalten. „Bei zuviel Duft verdufte“, hatte schon ihre Oma gesummt. Ihre Freundin beeindruckte das Wissen der Alten jedoch wenig. Sie hatte sich trotz Sibilles Abenteuerlust von der kleinen Teeküche nicht verabschieden wollen, in der die Verkäuferinnen ihre angebissenen Brötchen oder mikrowellenerwärmten Speisen verführerisch stehen ließen, wenn Kundschaft sie in den Laden lockte.

„Vielleicht war meine Freundin gar nicht so dumm“, kam es Sibille widerstrebend in den Sinn, während sie nach einem Landeplatz Ausschau hielt. Die konnte sich jedenfalls satt fressen, und meist in Gesellschaft. Die angegrauten Haare federten nach, als Sibille Platz nahm. Wie rochen Tote noch mal? Sie war sich nicht mehr sicher. Zumal die Bekanntschaft mit der toten Amsel schon einige Zeit zurücklag. Wäre sie selbst nicht auf immer Neues versessen, säße sie jetzt gewiss nicht in diesem alten, hohen Raum fest, sondern auf irgendeinem süßen, klebrigen Löffel oder einer nach Schweiß duftenden Haut.

Die einzige Chance, zu entkommen, hatte sie vertan. Erschöpft vom Suchen eines Auswegs und vom wieder und wieder Anfliegen gegen die großen Fensterscheiben, hatte sie fest geschlafen, als der Mann hereingekommen sein musste. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, war sie erschreckt hochgefahren. Zu spät, hatte sie gedacht, und rasend vor Wut Kurs auf den Mann genommen.

Sibille krabbelte über die Stirn und das rechte Auge. Das hätte der Typ zuvor niemals geduldet. Sie fixierte die Nase. Sie hatte immer schon wissen wollen, was sich in den kleinen Löchern verbarg. Doch bisher hatte sie keine Chance. Schon beim bloßen Aufsetzen auf die Wange wurde sie gewöhnlich verscheucht. Einmal war es ihr am Busbahnhof gelungen, über Bartstoppeln bis fast zum Nasenloch zu steigen. Der alkoholgeschwängerte Gegenwind hatte sie jedoch die Expedition abbrechen lassen.

Jetzt hatte sie es geschafft. Dieser Mensch hier zuckte kein bisschen, nicht mal als sie sich in das Dunkel der Höhle zwängte. „Ihhh!“ Sibille fühlte Schleim an ihren Vorderbeinen. Angeekelt wollte sie zurück. Aber sie klebte fest. Sie versuchte, mit ihren Flügeln zu schlagen, aber in der Enge des Gangs ließen sie sich nicht entfalten. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Der hohe Raum erschien ihr plötzlich ungeahnt attraktiv.

Sibille zwang sich, an ihren Großvater zu denken, von dem erzählt wurde, er habe sich an den eigenen Beinen aus einem Kuhfladen herausgezogen. „Das kann ich auch“, dachte Sibille kampflustig und stemmte ihre hinteren Beine fest gegen die Nasenwände. Langsam bewegte sie sich samt Schleim zum Nasenausgang. Als die ersten Beine bereits im Freien waren, lösten sich die anderen vom Schleimpfropf. An Fliegen war nicht zu denken. Trotzdem nahm Sibille glücklich auf der Lippe Platz und begann, sich zu säubern.

Sie hatte ihre Neugier schon einmal beinahe mit dem Leben bezahlt. Damals, als sie im Amtsgericht um die Töpfe gesummt war und es sich gerade auf einer Frikadelle gemütlich gemacht hatte. „Wollensese warm?“ hatte sie gerade noch die Stimme der Köchin vernommen, als auch schon eine gläserne Haube über sie gestülpt worden war. „Das war‘s“, hatte sie damals gedacht und von allen Familienträumen Abschied genommen.

Doch dann hatte sich der Mikrowellendeckel plötzlich gelüftet, und sie war wie eine Rakete gestartet. „Tatsache, eine Fliege war drauf“, hatte die staunend vibrierende Stimme der Köchin sie noch verfolgt. „Nichts wie raus aus der Kantine“, hatte sie sich gesagt und kurz darauf schon wieder die kribbelige Sucht nach Neuem verspürt. „Wie es wohl im Schloss aussieht?“

Jetzt wusste sie es. Überall Bauarbeiter. Ein Hotel solle hier einziehen, hatte ihr ein Käfer frustriert anvertraut, der auf würziges Aussiedleressen gehofft hatte. Für Sibille war Hotel ein verheißungsvolles Stichwort. Das klang nach einer großen Küche mit Fleisch, Obst und jeder Menge Abfällen. Und dann die Menschen mit ihren warmen, feuchten Körpern . . . Nicht so wie dieser hier. Der wirkte irgendwie kühl.

Ob sie den Mann auf dem Gewissen hatte? Sibille schob den Gedanken unwillig beiseite. Er war selber schuld. Er hätte ja nicht so wild um sich schlagen brauchen, als sie auf ihn zu schwirrte. Voller Wut auf sich selbst, weil sie das Öffnen der Tür verpasst hatte, hatte sie wieder und wieder den Kopf des Mannes umrundet. Nun ja, und sie hatte ihre Kreise immer enger gezogen. Dann hatte er ausgeholt und „Mistvieh“ gerufen. Aber sie war nicht umsonst als Schnellste ihres Jahrgangs im Sturzflug gefeiert worden. Die zuschlagende Hand hatte sie um Haaresbreite verpasst, der massige Körper war aus dem Gleichgewicht gekommen, getaumelt, gestürzt, sein Kopf gegen ein Baugerät geschlagen. Dann war plötzlich Stille eingekehrt.

Zuerst hatte Sibille unendliche Genugtuung verspürt. Den hatte sie fein ausgetrickst. Der sollte es noch mal wagen, gegen sie die Hand zu erheben. Aber jetzt, da er dort lag, einfach so dalag, stieg Beklemmung in ihr auf. Sie hatte alles an diesem Menschen betrachtet, was sie schon immer an seiner Spezies interessiert hatte, und nun hätte er eigentlich aufstehen können, statt diese seltsame Atmosphäre zu verbreiten.

Sibille brauchte Abstand und landete in der Fensterecke. In der späten Nachmittagssonne streckte sie sich. Ob er Familie besaß? Sie träumte von einem kräftigen Brummer mit starken Flügeln. Aber wie sollte der sie hier finden?

Sibille schrak hoch. Sie musste geschlafen haben, denn die Tür stand offen und eine Männerstimme rief: „Da ist er ja!“ Sie sah zwei Bauarbeiter hereinstürzen, sich zu Boden beugen und hörte sie erleichtert seufzen. „Er ist bewusstlos.“ Fast hätte Sibille vergessen, zur Tür zu schwirren. „Wie das wohl passiert ist?“ drang es gerade noch an ihr Ohr, als sie hinausflog in die Freiheit des schummrigen Gangs.

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