Sie
putzte sich. Aber für wen eigentlich?
Sibille saß in der unteren Fensterecke
und
sah missmutig über den Schlosshof.
Sie war gefangen, allein.
Nun
ja. In gewisser Weise nicht ganz allein. Sie blickte zu dem Mann zu ihren Füßen.
Gestern hatte sie ihn noch vor dem Schloss gesehen. Sehr lebendig. Da hatte es
so gewirkt, als sage er anderen, was sie zu tun und zu lassen haben. Nachdem er
im Portal verschwunden war, hatten die übrigen Männer, die kurz zuvor noch
Butterbrote ausgewickelt hatten, geschäftig begonnen, eine Betonmischmaschine
in Gang zu setzen.
Jetzt
lag er da. Regungslos und still auf dem staubigen Boden, der mit Holzstücken
und Überbleibseln diverser Bauarbeiten übersät war. Sibille beschloss, den
Mensch näher zu betrachten. Sie stieß sich mit den Beinen fest von der
Glasscheibe ab und flog zunächst eine Runde um seinen Kopf.
Nichts
regte sich. Sie sog Reste eines Joop-Aftershaves ein, an dessen Namen sie sich
beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Zugegebenerweise hatte sie es
damals in der Parfümerie nicht lange ausgehalten. „Bei zuviel Duft
verdufte“, hatte schon ihre Oma gesummt. Ihre Freundin beeindruckte das Wissen
der Alten jedoch wenig. Sie hatte sich trotz Sibilles Abenteuerlust von der
kleinen Teeküche nicht verabschieden wollen, in der die Verkäuferinnen ihre
angebissenen Brötchen oder mikrowellenerwärmten Speisen verführerisch stehen
ließen, wenn Kundschaft sie in den Laden lockte.
„Vielleicht war meine
Freundin gar nicht so dumm“, kam es Sibille widerstrebend in den Sinn, während
sie nach einem Landeplatz Ausschau hielt. Die konnte sich jedenfalls satt
fressen, und meist in Gesellschaft. Die angegrauten Haare federten nach, als
Sibille Platz nahm. Wie rochen Tote noch mal? Sie war sich nicht mehr
sicher. Zumal die Bekanntschaft mit der toten Amsel schon einige Zeit zurücklag.
Wäre sie selbst nicht auf immer Neues versessen, säße sie jetzt gewiss nicht
in diesem alten, hohen Raum fest, sondern auf irgendeinem süßen, klebrigen Löffel
oder einer nach Schweiß duftenden Haut.
Die
einzige Chance, zu entkommen, hatte sie vertan. Erschöpft vom Suchen eines
Auswegs und vom wieder und wieder Anfliegen gegen die großen Fensterscheiben,
hatte sie fest geschlafen, als der Mann hereingekommen sein musste. Erst als die
Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, war sie erschreckt hochgefahren. Zu spät,
hatte sie gedacht, und rasend vor Wut Kurs auf den Mann genommen.
Sibille
krabbelte über die Stirn und das rechte Auge. Das hätte der Typ zuvor niemals
geduldet. Sie fixierte die Nase. Sie hatte immer schon wissen wollen, was sich
in den kleinen Löchern verbarg. Doch bisher hatte sie keine Chance. Schon beim
bloßen Aufsetzen auf die Wange wurde sie gewöhnlich verscheucht. Einmal war es
ihr am Busbahnhof gelungen, über Bartstoppeln bis fast zum Nasenloch zu
steigen. Der alkoholgeschwängerte Gegenwind hatte sie jedoch die Expedition
abbrechen lassen.
Jetzt hatte sie es geschafft.
Dieser Mensch hier zuckte kein bisschen, nicht mal als sie sich in das Dunkel
der Höhle zwängte. „Ihhh!“ Sibille fühlte Schleim an ihren Vorderbeinen.
Angeekelt wollte sie zurück. Aber sie klebte fest. Sie versuchte, mit ihren Flügeln
zu schlagen, aber in der Enge des Gangs ließen sie sich nicht entfalten. Sie fühlte
Panik in sich aufsteigen. Der hohe Raum erschien ihr plötzlich ungeahnt
attraktiv.
Sibille zwang sich, an ihren
Großvater zu denken, von dem erzählt wurde, er habe sich an den eigenen Beinen
aus einem Kuhfladen herausgezogen. „Das kann ich auch“, dachte Sibille
kampflustig und stemmte ihre hinteren Beine fest gegen die Nasenwände. Langsam
bewegte sie sich samt Schleim zum Nasenausgang. Als die ersten Beine bereits im
Freien waren, lösten sich die anderen vom Schleimpfropf. An Fliegen war nicht
zu denken. Trotzdem nahm Sibille glücklich auf der Lippe Platz und begann, sich
zu säubern.
Sie
hatte ihre Neugier schon einmal beinahe mit dem Leben bezahlt. Damals, als sie
im Amtsgericht um die Töpfe gesummt war und es sich gerade auf einer Frikadelle
gemütlich gemacht hatte. „Wollensese warm?“ hatte sie gerade noch die
Stimme der Köchin vernommen, als auch schon eine gläserne Haube über sie gestülpt
worden war. „Das war‘s“, hatte sie damals gedacht und von allen Familienträumen
Abschied genommen.
Doch
dann hatte sich der Mikrowellendeckel plötzlich gelüftet, und sie war wie eine
Rakete gestartet. „Tatsache, eine Fliege war drauf“, hatte die staunend
vibrierende Stimme der Köchin sie noch verfolgt. „Nichts wie raus aus der
Kantine“, hatte sie sich gesagt und kurz darauf schon wieder die kribbelige
Sucht nach Neuem verspürt. „Wie es wohl im Schloss aussieht?“
Jetzt
wusste sie es. Überall Bauarbeiter. Ein Hotel solle hier einziehen, hatte ihr
ein Käfer frustriert anvertraut, der auf würziges Aussiedleressen gehofft
hatte. Für Sibille war Hotel ein verheißungsvolles Stichwort. Das klang nach
einer großen Küche mit Fleisch, Obst und jeder Menge Abfällen. Und dann die
Menschen mit ihren warmen, feuchten Körpern . . . Nicht so wie dieser hier. Der
wirkte irgendwie kühl.
Ob
sie den Mann auf dem Gewissen hatte? Sibille schob den Gedanken unwillig
beiseite. Er war selber schuld. Er hätte ja nicht so wild um sich schlagen brauchen,
als sie auf ihn zu schwirrte. Voller Wut auf sich selbst, weil sie das Öffnen
der Tür verpasst hatte, hatte sie wieder und wieder den Kopf des Mannes
umrundet. Nun ja, und sie hatte ihre Kreise immer enger gezogen. Dann
hatte er ausgeholt und „Mistvieh“ gerufen. Aber sie war nicht umsonst als
Schnellste ihres Jahrgangs im Sturzflug gefeiert worden. Die zuschlagende Hand
hatte sie um Haaresbreite verpasst, der massige Körper war aus dem
Gleichgewicht gekommen, getaumelt, gestürzt, sein Kopf gegen ein Baugerät
geschlagen. Dann war plötzlich Stille eingekehrt.
Zuerst
hatte Sibille unendliche Genugtuung verspürt. Den hatte sie fein ausgetrickst.
Der sollte es noch mal wagen, gegen sie die Hand zu erheben. Aber jetzt, da er
dort lag, einfach so dalag, stieg Beklemmung in ihr auf. Sie hatte alles an
diesem Menschen betrachtet, was sie schon immer an seiner Spezies interessiert
hatte, und nun hätte er eigentlich aufstehen können, statt diese seltsame
Atmosphäre zu verbreiten.
Sibille
brauchte Abstand und landete in der Fensterecke. In der späten Nachmittagssonne
streckte sie sich. Ob er Familie besaß? Sie träumte von einem kräftigen
Brummer mit starken Flügeln. Aber wie sollte der sie hier finden?
Sibille
schrak hoch. Sie musste geschlafen haben, denn die Tür stand offen und eine Männerstimme
rief: „Da ist er ja!“ Sie sah zwei Bauarbeiter hereinstürzen, sich zu Boden
beugen und hörte sie erleichtert seufzen. „Er ist bewusstlos.“ Fast hätte
Sibille vergessen, zur Tür zu schwirren. „Wie das wohl passiert ist?“ drang
es gerade noch an ihr Ohr, als sie hinausflog in die Freiheit des schummrigen
Gangs.
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